Fachtagung „Demokratie braucht alle!“

Aufsuchende politische Bildung im Quartier und darüber hinaus

Im Jahr 2019 rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Aktive der politischen Bildung dazu auf, sich „auf den Weg zu machen“ und „zu den Menschen hinzugehen“, die aus unterschiedlichen Gründen bisher nicht erreicht werden. Seinem Appell „Demokratie braucht alle!“ folgte eine Ermutigung, Ansätze der aufsuchenden politischen Bildung auszuprobieren und umzusetzen.

Angesichts der Zunahme von sozialen Ungleichheiten und der multiplen Krisen, die zu Gefühlen der Machtlosigkeit und Unsicherheit, zu einer Verbreitung von demokratieskeptischen Einstellungen und einer Normalisierung von menschenfeindlichen Diskursen führen, ist aufsuchende politische Bildung mehr denn je gefragt. Sie arbeitet auf eine gleichberechtige politische Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft hin, indem Möglichkeiten geschaffen werden, die individuellen Fähigkeiten zur politischen Teilhabe weiterzuentwickeln und zu nutzen.

Diesen Ansatz haben wir im Modellprojekt PartQ erprobt. In vier Jahren und zwei Projektrunden haben wir 19 Praxisprojekte in elf Quartieren bundesweit begleitet und evaluiert. Es wurden viele neue Wege ausprobiert, um für die Menschen in strukturell benachteiligten Stadtteilen Zugänge zu politischer Bildung und Partizipation zu schaffen. Um den Ansatz in der politischen Bildung, in der Quartiersarbeit und darüber hinaus zu verankern, entwickelten wir in einem multiperspektivischen Austausch Handlungsempfehlungen.

Die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen werden im Rahmen einer zweitägigen Fachtagung mit einem breiten Publikum geteilt und diskutiert.

Der Fokus des ersten Tages liegt auf den Erfahrungen und Ergebnissen von PartQ. Unter anderem wurde darüber diskutiert, wo politische Bildung anfängt und wer sie vor Ort umsetzt. Dabei wurde deutlich, dass politische Bildung oft im Alltag der Menschen beginnt, indem informelle Gespräche, alltagsbezogene Themen und lebensweltliche Zugänge aufgegriffen werden.

Die aufsuchenden politischen Bildungsangebote im Rahmen von PartQ wurden sowohl mit Trägern der Stadtteilarbeit und Sozialarbeit als auch mit migrantischen Organisationen und ehrenamtlich engagierten Bewohner*innen umgesetzt. Dies bot Potenziale wie die Nutzung bestehender Netzwerke, die Nähe zur Lebenswelt der Menschen und eine authentische Wahrnehmung der Projektträger. Dass einzelne Projektpartner*innen kaum Vorerfahrungen im Bereich der politischen Bildung und teilweise ein sehr unterschiedliches Verständnis davon hatten, was genau damit gemeint ist, erwies sich als herausfordernd.

Damit aufsuchende politische Bildung vor Ort gelingt, ist es von zentraler Bedeutung, die unterschiedlichen Erfahrungen, Kompetenzen und Expertisen der lokalen Akteure durch Vernetzung und Kooperation für die Umsetzung gemeinsamer Angebote zu nutzen. Ebenfalls von Bedeutung ist die Veränderung des Blicks auf politische Bildung in klassischen politischen Bildungsinstitutionen. Hier wurde für ein prozesshaftetes Verständnis von politischer Bildung plädiert, das unterschiedliche Formate (zum Beispiel 20-minütige „Snacks“) mitberücksichtigt und die Selbstbildung der Teilnehmenden in den Fokus stellt.

Über Erfahrungen aus der Praxis berichten unter anderem die Projekte ChangeQ aus Chemnitz und Bildet den Schlaatzrat aus Potsdam. Im Fokus stand dabei die Frage, wie politisches Handeln im Kontext sozialer Härte und damit verbundener Ohnmachtsgefühle gefördert werden kann. Möglich ist dies aus Sicht der beiden Projekte vor allem mithilfe aktivierender Methoden und steter Ansprache im öffentlichen Raum. Auf diese Weise konnten Ideen und Bedürfnisse im Quartier gesammelt und in praxisorientierte Bildungsformate überführt sowie Bewohner*innen ohne politische Vorkenntnisse für Engagement in einer Interessenvertretung gewonnen werden. Sprachbarrieren können durch flexible Ansätze bewältigt werden, um alle Beteiligten kontinuierlich einzubinden.

Die Projekte Integration durch Bildung und Tanz für Senior*innen mal anders berichten über positive Erfahrungen, ihre Angebote an bereits bestehende Freizeitangebote anzudocken und dafür bereits existierende Kontakte zu nutzen, allerdings kann die Größe der Gruppe sowie der genutzte Raum auch herausfordern. Um die Brücke zwischen Freizeit- und politischem Bildungsangebot zu schlagen, ist es wichtig, die verschiedenen Formate regelmäßig an die Wünsche der Teilnehmenden anzupassen.

Auf der Tagung erhalten die Teilnehmenden zudem die Möglichkeit, an ausgewählten Qualifizierungsmodulen teilzunehmen, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, um Personen zu unterstützen, die aufsuchend politisch bildend tätig werden möchten. Diese Module decken unterschiedliche Wissens- und Kompetenzbereiche ab, die aus unserer Sicht für die aufsuchende politische Bildung unerlässlich sind.

Am zweiten Tag blicken wir über den Tellerrand. Dabei kristallisieren sich in der Diskussion mit den Teilnehmenden zentrale Empfehlungen für weitere bisher offen gebliebene Facetten aufsuchender politischer Bildung:

  1. Wir sind überzeugt, dass aufsuchende politische Bildung nur durch eine machtkritische und intersektionale Herangehensweise wirklich inklusiv sein kann. Wichtig ist, dass soziale Ungleichheiten in Bildungsprozessen nicht nur adressiert, sondern aktiv hinterfragt und bearbeitet werden. Denn Alltagsinteraktionen sind immer in größere historische und gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden. Nicht zuletzt können Differenzkonstruktionen und rassistische Strukturen unbewusst auch durch Fachkräfte reproduziert werden. Insofern sind Empowerment und geschützte Räume essenziell, um marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen und Partizipation zu ermöglichen.
  2. Wir sind der Meinung, dass der Sozialraum und der digitale Raum nicht getrennt voneinander, sondern gemeinsam berücksichtigt werden müssen, auch wenn unsere Praxisprojekte vorrangig analog arbeiteten. Aufsuchende politische Bildung muss den digitalen Raum stärker berücksichtigen, da dieser die Lebensrealität vieler Menschen prägt. Digitale Räume bieten dabei sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Mithilfe von Ansätzen wie Digital Streetwork, der Zusammenarbeit mit Influencer*innen oder der Nutzung von Videospielen als Bildungs- und Ansprache-Medium können Zielgruppen erreicht werden, die über klassische Formate schwerer zugänglich sind. Zudem kann darüber antidemokratischen Inhalte im Netz etwas entgegengesetzt werden. Um die Potenziale digitaler politischer Bildungsarbeit auszuschöpfen, fehlt vielen Pädagog*innen bisher allerdings oft noch das Wissen und die nötige Medienkompetenzen.
  3. In unseren östlichen Modellquartieren wurde deutlich, dass politische Bildung in den neuen Bundesländern auf spezifische historische, soziale und strukturelle Besonderheiten eingehen muss. Erfahrungen aus der DDR-Sozialisation, Transformationserlebnisse nach der Wende und aktuelle demografische Entwicklungen prägen die Region. Themen wie antidemokratische Einstellungen, Migrationsfeindlichkeit und der Einfluss rechter Netzwerke stellen besondere Herausforderungen dar. Gleichzeitig bieten starke zivilgesellschaftliche Netzwerke und innovative Ansätze Potenzial. Politische Bildung muss sich deshalb stärker auf die Bedürfnisse und Perspektiven vor Ort fokussieren und dabei sozialräumliche Ansätze stärker als bisher integrieren. Für eine erfolgreiche Umsetzung sind eine langfristige Förderung, Kooperationen und passgenaue Methoden entscheidend​.

Aufsuchende politische Bildung muss neue Wege gehen, um vielfältige Menschen zu erreichen. Die stärkere Einbindung marginalisierter Perspektiven in Bildungsprozesse, die Anerkennung migrantischer Selbstorganisationen (MSOs) als eigenständige Anbieter politischer Bildung sowie die Erweiterung informeller Formate in digitale Räume sind einige dieser Schritte. Entscheidend ist eine engere Zusammenarbeit zwischen diversen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und politischen Entscheidungsträger*innen, wozu nicht zuletzt auch die Bereitschaft von Politiker*innen gehört, sich in informelle Quartiersformate zu begeben und vor Ort Präsenz zu zeigen.

Datum:

12.11.2024 | 13.11.2024

Ort:

TUECHTIG, Oudenarder Straße 16, 13347 Berlin

Kontakt:

Maëlle Dubois
m.dubois@minor-wissenschaft.de

Diese Veranstaltung findet im Rahmen des Projektes PartQ – Aufsuchende politische Bildung im Quartier statt.

Das Projekt wird gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung.