Perspektiven auf aufsuchende politische Bildung im Quartier

Blicke aus der politischen Bildung, der Gemeinwesenarbeit und der Wohnungswirtschaft

Um politische Bildungsarbeit im Quartier umzusetzen und zu verankern, ist ein breites Bündnis unterschiedlicher Akteur*innen gefragt.

Nicht nur politische Bildner*innen spielen dabei eine zentrale Rolle: Um die Bewohner*innen zu erreichen, die klassische Angebote der politischen Bildung nicht wahrnehmen, sind sie auf eine enge Zusammenarbeit und Vernetzung mit Quartiersmanagements, Sozialarbeiter*innen, Stadtverwaltungen und Wohnungsunternehmen angewiesen. Auch trifft aufsuchende politische Bildung auf andere Ansätze, die im Sozialraum bereits auf eine lange Tradition zurückblicken, wie bspw. die Gemeinwesenarbeit oder das Community Organizing.

Mit den Praxisforen des Modellprojektes PartQ werden diverse Perspektiven auf aufsuchende politische Bildung im Quartier sowie Handlungsempfehlungen zur Verankerung des Ansatzes diskutiert und gesammelt. Damit soll außerdem ein Grundbaustein für einen Dialog und die weitere Zusammenarbeit geschaffen werden.

Datum:

24.01.2024 | 16.04.2024 | 15.05.2024

Kontakt:

Maëlle Dubois
m.dubois@minor-wissenschaft.de

Beim ersten Praxisforum wird der Ansatz der aufsuchenden politischen Bildung aus Sicht der Profession der politischen Bildung diskutiert. Die Teilnehmenden widmen sich der Fragestellung, vor welchen Herausforderungen politische Bildner*innen im Quartierskontext stehen und wie die politische Bildungsarbeit auf lokaler Ebene gestärkt werden kann.

Auftrag

Im Kontext der aufsuchenden politischen Bildung liegt eine erste Herausforderung darin, die politische Dimension von Alltagsthemen hervorzuheben, die von Bewohner*innen angesprochen werden, ohne dass individuelle Problemlagen und Anliegen dadurch vernachlässigt werden – oder im Gegenteil, dass die politische Dimension der Themen nicht zum Vorschein kommt. Letzteres geschieht aus Sicht der politischen Bildner*innen oft dadurch, dass die politische Dimension nicht erkannt wird oder Einzelinteressen nicht als potenzielle kollektive Interessen wahrgenommen werden. Dafür kann hilfreich sein, Bewohner*innen zu fragen, was hinter bestimmten Erfahrungen oder Verhaltensweisen steckt.

Um Bildungsprozesse spontan zu eröffnen, die sich an den Themen der Bewohner*innen ausrichten, ist es aus Sicht der politischen Bildner*innen wichtig, prozessorientiert und ergebnisoffen zu handeln. In manchen Situationen bedarf es z.B. einer Umstrukturierung und Neuausrichtung der angedachten Themen. Hierzu kann es auch notwendig sein, Prioritäten zu wechseln und Bildungsprozessen den Vorrang zu geben, bspw. gegenüber konkreten (baulichen) Maßnahmen. Dies soll in einem demokratischen Prozess mit der Gruppe entschieden werden, indem gefragt wird, was gemeinsam weiterverfolgt werden soll. Parallel soll auf Ansprechpersonen verwiesen werden, die die Bewohner*innen in ihren persönlichen Anliegen unterstützen können.

Werte

Ebenso herausfordernd für die aufsuchende politische Bildung ist der Umgang mit Personen, die menschenfeindliche Einstellungen vertreten oder Realitätsleugnung betreiben. Denn politische Bildung ist nicht wertneutral, sie orientiert sich am Grundgesetz und an den Menschenrechten. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Ignorieren und Ausschließen solcher Personen (was teilweise unvereinbar ist mit dem Anspruch der aufsuchenden politischen Bildung, alle zu erreichen) und einem zu großen Fokus auf diese Personen (was de facto zu einem Ausschluss von anderen, bspw. von Diskriminierungen betroffenen führen kann).

Um mit solchen Situationen umzugehen, ist Komplexität gefordert: Menschen sollen nicht zu schnell in Schubladen eingeordnet werden. Auch die Bereitschaft zum Dialog nimmt eine entscheidende Rolle ein, jedoch immer im Rahmen von demokratischen Grundwerten. Diskriminierung, Gewaltvorstellungen und antidemokratische Einstellungen dürfen nicht akzeptiert werden. Es sollen viele Meinungen und Perspektiven gehört werden, dazu gehört auch, menschen- und demokratiefeindlichen oder antidemokratischen Positionen nicht zu viel Raum zu geben. Auch in diesem Sinne ist es wichtig, den Blick in die andere Richtung zu lenken und positiv offene und demokratische Werte wie Vielfalt zu stärken, anstatt sich an menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Aussagen abzuarbeiten.

Strukturen

Die langfristige Verankerung von politischer Bildungsarbeit im Quartier benötigt auch adäquate Strukturen und Rahmenbedingungen, die eine enge Zusammenarbeit mit Sozialträgern, Stadtteilrunden, Wohnungsunternehmen, aber auch Vereinen und lokalen Initiativen ermöglichen sowie Konkurrenzsituationen zwischen unterschiedlichen Ansätzen verhindern. Eine gute Vernetzung, eine Koordination zwischen den Angeboten und eine Bündelung der Kompetenzen sind in diesem Kontext essenzielle Elemente. Dazu gehören auch die Stärkung bestehender Schnittstellen und Brückeninstitutionen, wie z. B. Quartiersmanagements. Auch sollen erfolgreiche Ansätze ohne hohe Hürden verfestigt werden können.

Damit diese Strukturen nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigehen, ist eine starke Einbeziehung der Bewohner*innen unerlässlich. So können Angebote in einem gemeinsamen Prozess zwischen Entscheidungsträger*innen, lokalen Organisationen und (zukünftigen) Teilnehmenden entstehen. Langfristig tragen solche Prozesse auch zu lokalem Empowerment bei. Wichtig ist dabei, multiperspektivische und diskriminierungskritische Ansichten zu inkludieren, um Ausschlussmechanismen abzubauen, statt zu verstärken.

Beim zweiten Praxisforum blicken Wohnungsunternehmen, die oft größere Wohnungsbestände in Quartieren besitzen und zentrale Stakeholders fürs Zusammenleben sind, auf den Ansatz der aufsuchenden politischen Bildung. Im Fokus liegt die Frage, wie Wohnungswirtschaft dazu beitragen kann, über die Partizipation von Bewohner*innen das soziale Miteinander und die Grundwerte der Demokratie zu stärken.

Anhand von zwei Beispielen der Arbeit einer Baugenossenschaft aus Braunschweig sowie eines Bündnisses verschiedener Wohnungsunternehmen und -genossenschaften in Potsdam werden partizipative Ansätze unter Beteiligung von Wohnungsunternehmen im Rahmen von Quartiersarbeit diskutiert.

Am Beispiel einer partizipativen Fassadengestaltung in der Braunschweiger Weststadt kann verdeutlicht werden, dass eine erste Herausforderung die interne Akzeptanz von Partizipationsvorhaben im Wohnungsunternehmen bzw. der Wohnungsgenossenschaft sein kann. Diesbezüglich müssen die Vorteile, die Partizipationsprozesse mit sich bringen, deutlich gemacht werden. Fassadengestaltungen und Wandmalereien fördern die Identifikation und die Zufriedenheit im Stadtteil, auch werde dadurch Vandalismus vorgebeugt. An dem Beispiel wird zudem deutlich, wie wichtig Vernetzung im Stadtteil und breite Kooperationen sind. Die Ansprache und Umsetzung des Projektes waren sehr aufwändig und allein durch die betreffende Baugenossenschaft nicht umsetzbar. Durch eine Unterstützung und Begleitung durch PartQ, Kooperation mit einer städtischen Kultureinrichtung im Stadtteil und die Beteiligung des örtlichen Quartiersmanagements konnten genug Kapazitäten für das Vorhaben freigemacht werden. Die Genossenschaft begleitete das Vorhaben, war in die Projektplanung involviert und beteiligte sich finanziell.

Die Bedeutung von breiten Bündnissen wird auch im zweiten Beispiel, der Gründung einer gelosten Interessenvertretung und Umsetzung eines ganzheitlichen Partizipationskonzeptes im Potsdamer Stadtteil Schlaatz deutlich. Hier arbeiten die Landeshauptstadt, ein Bündnis verschiedener Wohnungsunternehmen und -genossenschaften sowie weitere Organisationen aus dem Stadtteil gemeinsam an einem guten Partizipationsprozess im Rahmen eines Masterplanverfahrens. Partizipation gut umzusetzen und sichtbar zu machen sei herausfordernd, weil dafür eine dauerhafte Kommunikation mit Akteur*innen und Bewohner*innen im Stadtteil nötig ist, vor allem wenn die Umsetzung nicht unmittelbar passiert. Partizipation muss kontinuierlich mitgedacht werden. In dieser Hinsicht ist die professionelle Unterstützung durch Stadtteilakteur*innen und Expert*innen im Bereich Beteiligung zentral. Eine Begleitung durch die Kommune könne von der Wohnungswirtschaft eingefordert werden.

Als wichtige Baustelle für die Partizipation der gesamten Bandbreite der Quartiersbewohnerschaft wird die Ansprache von Menschen mit Migrationsgeschichte thematisiert. Klassische Ansprachewege funktionieren nur bedingt, hier braucht es neue Formate und diverse Gruppen müssen von Anfang an mitgedacht werden. Schlüsselpersonen, die Kontakte in die verschiedenen Gruppen haben, müssen aktiv eingebunden werden. Darin sehen die Teilnehmenden auch das größte Potenzial der aufsuchenden politischen Bildung, da der Ansatz Kompetenzen mitbringt, die verschiedenen Perspektiven von Bewohner*innengruppen zu moderieren.

Die Wohnungswirtschaft kann hinsichtlich der Förderung von Partizipation verschiedene Rollen – als Ermöglicherin, Umsetzerin, Entscheidungsträgerin und Netzwerkpartnerin – einnehmen. Die Verankerung der Rollen ist aber sehr unterschiedlich und variiert nach Kapazitäten und Erfahrungen vor Ort. Überall ist es wichtig, auf Kooperationen mit Kommunen und Zivilgesellschaft sowie gemeinsame Finanzierungsmodelle zu setzen. Für die Stärkung des Zusammenhalts sind zum einen physische Begegnungsräume wie Nachbarschaftszentren oder Treffpunkte bedeutend, zum anderen ist die Förderung von Ehrenamt wichtig, um langfristige Vertrauensverhältnisse und Kommunikationskanäle sicherzustellen. Für die Begleitung von Ehrenamtlichen braucht es jedoch gute Strukturen.

Präsentationen:

Gregor Kaluza, Baugenossenschaft Wiederaufbau – „Wohnen fängt mit >W< an“
Download als PDF (1,9 MB)

Josephine Braun, Arbeitskreis Stadtspuren – „Partizipation im Prozess Stadtentwicklung Schlaatz 2030“
Download als PDF (2,3 MB)

Beim dritten Praxisforum schauen wir gemeinsam mit Quartiers- und Gemeinwesenarbeiter*innen auf den Ansatz der aufsuchenden politischen Bildung. Ziel ist es, Potenziale für Synergien zu identifizieren und zu diskutieren, welchen Beitrag die unterschiedlichen Ansätze für eine Stärkung von Demokratie und politischer Teilhabe im Quartier leisten können.

Zielsetzungen und Standards von Gemeinwesenarbeit und aufsuchender politischer Bildung im Quartier

Die Quartiersarbeit ist ein breit gefächertes Feld, in dem verschiedene Ansätze verschwimmen und viele Menschen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen arbeiten. Das führt zu unterschiedlichen Zielsetzungen und Arbeitsstandards in der Quartiersarbeit und bringt Vor- und Nachteile mit sich. Die Vielfalt der Ansätze, Berufshintergründe und Akteur*innen der Stadtteilarbeit bietet zum Teil die Möglichkeit, ortspezifisch und bedarfsorientiert auf die Gegebenheiten einzugehen. Auf der anderen Seite gibt es keinen Überblick, keine Theoretisierung und nur wenig Wissenstransfer in dem Bereich. Eine Orientierung für Zielsetzungen und Qualitätsstandards bieten die Ansätze der Gemeinwesenarbeit und der aufsuchenden politischen Bildung.

Trotz einiger Unterschiede verfolgen beide Ansätze ähnliche Ziele. Im Kern geht es darum, Menschen bei ihrer Partizipation in Politik und Gesellschaft zu unterstützen und eine Brücken- und Übersetzungsfunktion zwischen Bewohner*innen und Entscheidungsträger*innen einzunehmen. Um diese Funktion zu stärken, braucht es eine verlässliche Finanzierung, stabile Strukturen und weniger Personalfluktuation, eine übergeordnete lokale Vernetzung mit allen Beteiligten und nicht zuletzt den Willen und die Bereitschaft in Politik und Verwaltung. Dabei kann die aufsuchende politische Bildung unterstützen, indem sie ihre Angebote und Kompetenzen in die Quartiersarbeit einspeist, mit Hauptamtlichen vor Ort kooperiert und diese weiterbildet und auch Entscheidungsträger*innen für Demokratie und Beteiligung sensibilisiert.

Strukturen demokratiestärkender Quartiersarbeit

Wie auch bei den Zielen und Standards ist Quartiersarbeit von den Strukturen her sehr unterschiedlich aufgestellt. Das zeigt sich auch in den Modellquartieren von PartQ. In einigen Quartieren gibt es zum Beispiel ein sehr großes Angebot an Sozial- und Quartiersarbeit und ein breites Netzwerk an Akteur*innen, in anderen gibt es nur vereinzelte Angebote und kaum Vernetzung. Dazu kommt, dass die Quartiers- und Gemeinwesenarbeit und die politische Bildung kaum voneinander wissen, geschweige denn in Kooperationen zusammenarbeiten. Ein weiterer Aspekt ist, dass es für die Qualifizierung von demokratiestärkender, menschenrechtsorientierter Quartiersarbeit keine gut ausgeprägten (Weiter-)Bildungsstrukturen gibt. Dafür müsste Gemeinwesenarbeit und (aufsuchende) politische Bildung stärker im Studium der Sozialen Arbeit verankert werden und außeruniversitäre Weiterbildungen gestärkt werden.

Für eine demokratiestärkende Quartiersarbeit müssten auch Förderstrukturen stabilisiert und übersichtlicher gestaltet werden. Gemeinwesenarbeit und politische Bildung müssten darin als Handlungsfelder ergänzt und gestärkt werden. Dafür sollten auch vorhandene Strukturen besser nutzbar gemacht werden. Die aufsuchende politische Bildung kann dafür eine wichtige Vernetzungspartnerin sein, weil sie eine grundlegende Haltung und eine klare Zielsetzung für die Stärkung von Demokratie einbringt.

Auswirkungen gesellschaftlicher Herausforderungen im Quartier

Die Quartiersarbeit steht vor neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich lokal in den Stadtteilen niederschlagen. Die sozioökonomischen Ungleichheiten nehmen zu und münden in Armutsproblematiken. Demografischer Wandel und Zuwanderung sorgen für eine Veränderung der Altersverteilungen und eine Diversifizierung der lokalen Bevölkerungen. Interkulturelles Zusammenleben und die Kulturalisierung von Nachbarschaftskonflikten sind zunehmende Herausforderungen in den Stadtteilen. Dazu kommt die Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit, Verschwörungserzählungen und Populismus, teilweise getragen durch digitale soziale Medien und Netzwerke. Kommunikation und Information wird gleichzeitig schnelllebiger und unübersichtlicher. Mit diesen Entwicklungen gehen Gefühle von Unsicherheit und Ohnmacht einher, sowohl bei den Bewohner*innen als auch zum Teil bei den Stadtteilarbeiter*innen selbst.

Quartiers- und Gemeinwesenarbeit muss sich vor dem Hintergrund dieser multiplen Herausforderungen wappnen und weiterentwickeln. Zentral ist es, Machtkritik zu ermöglichen und Empowerment-Prozesse aktiv zu verfolgen. Dazu gehört eine kritische und reflektive Haltung und eine interdisziplinäre Ausrichtung, zum Beispiel durch Kooperationen von Gemeinwesenarbeit und (aufsuchender) politischer Bildung. Ziel muss es sein, eine Schnittstelle zur parlamentarischen Demokratie zu bilden. Um diese Rolle erfüllen zu können, benötigt demokratiestärkende Quartiersarbeit die nötige Legitimation, finanzielle Sicherheit und Personalressourcen, aber auch Qualifizierung und Vernetzung. Dabei kann die aufsuchende politische Bildung Partnerin und eigener Akteur sein und ein zusätzliches Handlungsrepertoire beitragen.

Diese Veranstaltung findet im Rahmen des Projektes PartQ – Aufsuchende politische Bildung im Quartier statt.

Das Projekt wird gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung.