Vorhang auf für Tenever

Politische Bildung durch interaktives Theater im Stadtteil

Mit einem „Glücksrad“ und einem mobilen Kaffeestand werden die Bewohner*innen von Bremen Tenever zu Gesprächen über ihren Stadtteil eingeladen. Anhand der aufkommenden Themen werden drei Theaterszenen geschrieben, die im Format des Forumtheaters an unterschiedlichen Orten im Stadtteil aufgeführt werden. Das Publikum wird dabei eingeladen, konflikthafte Situationen gemeinsam zu verändern.

Projektidee und Ziele

Mit Hilfe der Methode des interaktiven Theaters, angelehnt an das „Theater der Unterdrückten“ von Augusto Boal sollen Themen, die die Bewohner*innen des Wohngebietes beschäftigen, auf der Bühne aufgeführt werden. Ziel ist, gemeinsam mit den Zuschauer*innen Lösungsansätze für die dargestellten Problematiken im Kiez zu entwickeln, um Handlungsfähigkeit sowie solidarisches Miteinander zu stärken.

Projektumsetzung

In den ersten Monaten steht die Ansprache der Bewohner*innen im Stadtteil und die Themenermittlung für die Theaterszenen im Fokus der Aktivitäten. Aus den vielfältigen Themen werden im zweiten Schritt Szenen geschrieben. Zwischen April und Juni werden drei Aufführungen des Forumtheaters umgesetzt.

Themensammlung im Stadtteil

An belebten Orten im Stadtteil werden Menschen zu Gesprächen eingeladen. Eine Kaffeemaschine und ein großes buntes Glücksrad lenken die Blicke der Passant*innen auf den Stand und bieten einen Gesprächsaufhänger. Interessierte Nachbar*innen können am Glücksrad drehen und kriegen entsprechend der gedrehten Nummer eine Aussage über ihren Stadtteil, auf die sie eingehen können. So entstehen Gespräche über diverse Themen wie Armut, Einsamkeit im Alter, Gewalt unter Jugendlichen, Migration und Rassismus. Die aufkommenden Themen werden vom Projektteam auf Plakaten festgehalten. Da auf Grund der Wetterlage keine längeren Gesprächskonstellationen zustande kommen, hängt das Projektteam die Plakate im Café Abseits auf und bietet den Passant*innen mit einem 10% Essensgutschein an, Freitags gemeinsam beim Mittagessen die angesprochenen Themen zu vertiefen. Über die Identifizierung von Themen dient diese aufsuchende Ansprache somit auch als Gesprächsangebot für die Quartiersbewohner*innen untereinander. Die Bewohner*innen können sich bei Interesse zudem in das Theaterprojekt einbringen und zu den Proben kommen.

Szenenentwicklung

Parallel zu weiteren Anspracheterminen werden auf Grundlage der Themensammlung aus den Gesprächen erste Theaterszenen entwickelt. Da das Interesse von Bewohner*innen, selbst im Theaterstück mitzuspielen, nicht groß ausfällt, wird eine Kooperation mit einem Theaterensemble eingegangen, das bereits Erfahrung mit dem Format des Forumtheaters hat. Da sie bisher nicht in Tenever aktiv sind, werden sie eingeladen, bei einigen Terminen der aufsuchenden Ansprache dabei zu sein, um einen ersten Kontakt zu den Bewohner*innen herzustellen. Aus den gesammelten Themen werden drei Szenen entwickelt.

  • Szene „Rück das Fahrrad raus“: Lisas Mutter kommt trotz langer Arbeitstage kaum über die Runden. In Farahs Familie ist die Stimmung seit ihrer Flucht vor vier Jahren bedrückt. Die Freundinnen tauschen sich über das fehlende Verständnis ihrer Eltern und Alltägliches aus. Ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als Lisas Mutter Farahs Vater beschuldigt, Lisas Fahrrad gestohlen zu haben.
  • Szene „Entscheidungen oder Harte Typen“: Salim kämpft mit Schwierigkeiten in der Schule und seinem gewalttätigen Vater. Gemeinsam mit Lara beschließen sie, ihrer Wut anders Ausdruck zu verleihen. Andere Nachbarinnen fühlen sich in ihrem Stadtteil nicht mehr sicher.
  • Szene „Nachbarschaft“: Leoni hat finanzielle Sorgen, nach außen versucht sie jedoch den Schein zu wahren. Alicia ist verwitwet und einsam. Als die beiden Nachbarinnen aufeinandertreffen, traut sich keine, um Hilfe zu bitten.

Theatervorführungen

Die erste Vorführung findet im Café Schweizer Viertel, einem zentralen und hellen Ort statt. Durch vorherige Bekanntmachung im Café erscheinen viele reguläre Besucher*innen des Cafés zur Vorführung. Die Gruppe aus Jugendlichen und älteren Personen tauscht sich rege über die Szenen aus und bringt ihre unterschiedlichen Perspektiven ein. Zwei weitere Vorführungen finden an einem Marktplatz und zu einem Sommerfest an verschiedenen Orten des Viertels statt. Die Szenen werden von den Zuschauer*innen als äußerst realistisch beurteilt und stoßen auf viel Zuspruch. Die Anmerkungen und Lösungsvorschläge des Publikums werden auf Plakaten festgehalten.

Das Forumtheater basiert auf dem Theater der Unterdrückten von Augusto Boal und kombiniert Kunst und Selbsterfahrung mit politischem Probehandeln. Es bietet viele Möglichkeiten der Aktivierung von im Alltag oft unterdrückten oder vernachlässigten sozialen und kommunikativen Ressourcen, in der spielerischen, ästhetischen und theatralen Begegnung von Menschen.

Augusto Boals Theater der Unterdrückten geht von zwei Grundsätzen aus:

  • Das Publikum als passives Wesen und Objekt soll zum Handeln aktiviert werden.
  • Das Theater soll sich nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern ebenso mit der Zukunft und deren Möglichkeiten.

Erkenntnisse für die politische Bildung

Die Ansprache und Gespräche auf der Straße werden maßgeblich durch den Kontext und die Art der Ansprache beeinflusst. Anfangs erschweren das kalte Wetter und das Format eines Fragebogens den Gesprächsfluss. Auch die Art der Aussagen hat einen Einfluss auf die Gespräche. Politisch explizitere Aussagen wie „Ich fühle mich in Tenever sicher“ fungieren als effektive Gesprächsanstöße, während die Aussage „Nachts gehe ich gerne spazieren“ keine Assoziation zu Sicherheitsfragen weckt. Durch kontinuierliche Anpassung der Aussagen und des Settings der Ansprache wird das Interesse der Passant*innen geweckt und niedrigschwellige politische Gespräche gefördert, was zu einer erfolgreichen Themensammlung führt. Auch offene Fragen regen zu persönlichen und kreativen Antworten an.

In der Ansprache ist die Projektgruppe immer wieder mit demokratie- und menschenfeindlichen Aussagen konfrontiert. Hier wird sich mehr Qualifikation, beispielsweise in Form eines „Ansprache-Coachings“ gewünscht, um einerseits Haltung zu zeigen, andererseits aber im Gespräch bleiben zu können. Hier braucht es Sensibilität und einen langen Atem. Die Projektgruppe entwickelt die Strategie, durch kontinuierliches Nachfragen pauschale Aussagen aufzubrechen, fühlt sich aber in der lehrenden Rolle unwohl.

In der Nachbesprechung der vorgeführten Szenen kommen viele Zuschauer*innen ins Erzählen über ihre eigene Situation und analysieren die dargestellten Szenen sehr treffend, beispielsweise in Bezug auf soziale und strukturelle Ungleichheit. Die Lösungsvorschläge verbleiben jedoch häufig auf der interindividuellen Ebene, da die Fragen an das Publikum in erster Linie auf Verhaltensänderungen der Einzelpersonen abzielen und kaum auf gesellschaftliche Ursachen der Konflikte. So sind die Verbesserungsvorschläge, die kommen, meist in Form von nachbarschaftlichem Engagement gedacht: Nachbarschaftsfeste, Seniorentreffs, Vermittlung zwischen Freunden. Das Darstellen institutioneller Akteure auf der Bühne und ein schrittweiser Aufbau der Fragen hin zur Reflexion struktureller Zusammenhänge könnten es erleichtern, mit dem Publikum niedrigschwellig über Lösungsansätze auf gemeinschaftlicher und politischer Ebene nachzudenken und so politische Bildungsmomente stärken.

Modellquartier:

Tenever, Bremen

Projektträger:

Initiative zur sozialen Rehabilitation e.V.

Projektlaufzeit:

01.09.2023 – 30.06.2024

Ansprache mit Kaffee und Glücksrad
Ansprache im öffentlichen Raum
Themensammlung im Quartier
Vorführung auf dem Marktplatz
Diskussion von Lösungsansätzen nach Vorführung

Die Praxisprojekte werden im Rahmen des Modellprojekts PartQ – Aufsuchende politische Bildung im Quartier umgesetzt.

PartQ wird gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung.